
Regionale solidarische Hilfskassen
Seit dem Mittelalter entstanden in den Städten berufliche Kassen, sogenannte Laden. Später folgten im Zuge der Industrialisierung erste Betriebs- und Fabrikkrankenkassen. Sie boten der Belegschaft einen minimalen Schutz bei Arbeitsunfähigkeit oder im Todesfall. Auch in Graubünden schlossen sich Handwerker zu Berufskassen zusammen.
Im 19. Jahrhundert entstanden Hilfskassen, die als solidarische Vereine oder Genossenschaften organisiert waren. Diese waren klein und geografisch begrenzt. Eine bestimmte Gesinnung oder Zugehörigkeit war wichtig. Die Christlichsoziale Kranken- und Unfallkasse der Schweiz (CSS) zum Beispiel war nur Katholik:innen zugänglich. 1852 wurde die erste Krankenkasse im Bündner Oberland gegründet, die Stadtkrankenkasse Ilanz.
Ab den 1860er-Jahren entstanden viele neue Kassen – auch in der übrigen Schweiz – und die Anzahl versicherter Personen stieg an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren 15 Prozent der Bevölkerung der Schweiz in einer der 2000 Kassen versichert. Die meisten zählten weniger als 200 Mitglieder. In Graubünden war der Krankenverein Davos mit 2080 Mitgliedern die grösste Krankenkasse, die kleinste war der Meisterverein Maienfeld mit 8 Mitgliedern.
Viele Hilfskassen leisteten Beiträge an einen Verdienstausfall, nicht aber an die Kosten für Medikamente oder Arztbehandlungen. Vor jedem Besuch beim Arzt musste ein «Krankenschein» gelöst werden. Dieser war kostenpflichtig. Weil mehr Männer einer bezahlten Arbeit nachgingen, waren auch mehr Männer in den Krankenkassen versichert. Nur 21 Prozent der Versicherten waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts Frauen. Ihr Anteil stieg in den kommenden Jahrzehnten kontinuierlich an.
Ein Artikel in der Bundesverfassung
Auf nationaler Ebene gab es ab den 1880er-Jahren Bestrebungen, die Schaffung einer Kranken- und Unfallversicherung in der Verfassung zu verankern. Im Oktober 1890 wurde eine Vorlage des Bundes von den stimmberechtigten Männern mit einer grossen Mehrheit angenommen.
Die Umsetzung auf Gesetzesebene war schwierig und brauchte Zeit. Unter anderem, weil die Kantone ihre Kompetenzen bewahren wollten. 1911 stimmten Parlament und Stimmvolk einem Kompromiss zu, der eine obligatorische Unfallversicherung vorsah. Die Krankenversicherung blieb jedoch freiwillig. In den folgenden Jahrzehnten scheiterten mehrere Versuche für ein Krankenkassenobligatorium an der Urne. Erst 1996 wurde es für die ganze Schweiz eingeführt.
Der Weg zum ersten Bündner Krankenversicherungsgesetz 1923
Die Bündner Kassen schlossen sich 1902 zu einem kantonalen Verband zusammen, um ihre Interessen zu vertreten und um die Zahl der Versicherten im Kanton zu erhöhen.
1908 schuf der Kanton ein eigenes Gesetz zur «staatlichen Förderung der Krankenpflege». Ein Jahr später beschloss das Kantonsparlament einen jährlichen Beitrag an ländliche Gemeinden, um die Kosten der ärztlichen Behandlung für «bedürftige Personen und Familien» zu reduzieren. 1923 wurde das «Gesetz über die Kranken-Versicherung» in einer Volksabstimmung klar angenommen.
Damit einher ging die Gründung neuer Krankenkassen, und 1922 waren bereits 61 Prozent der Bündner Bevölkerung krankenversichert, was im schweizerischen Vergleich eine hohe Zahl war.
Zusammenschlüsse und Ausbau zu Gesundheitsunternehmen
Die Zahl der Mitglieder nahm in den folgenden Jahrzehnten stetig zu. 1952 waren 94 Prozent der Bündner Bevölkerung bei einer Krankenkasse versichert. Gleichzeitig schrumpfte die Zahl der Krankenkassen durch Zusammenschlüsse. Die Kassen wurden grösser und arbeiteten überregional.
Heute sind Krankenkassen schweizweit agierende, kommerzielle Versicherungsunternehmen und einflussreiche sozialpolitische Akteurinnen. Gesundheit kostet – das gilt auch heute mehr denn je. Die Kosten für das Gesundheitssystem und die Krankenkassenprämien steigen kontinuierlich an.
Die Gemeinden des Oberlugnez führten die obligatorische Krankenversicherung für alle Einwohner:innen ein und gründeten zu diesem Zweck 1917/1918 die Krankenkasse Lumnezia I. Sie übernahm die Kosten für Medikamente und ärztliche Behandlungen. Die Gemeinden waren verpflichtet, die Beiträge für Personen, die sich die Prämien nicht leisten konnten, zu übernehmen sowie allfällige Defizite der Krankenkasse auszugleichen. Dreizehn Jahre später gründeten die Gemeinden des Unterlugnez zusammen mit Vals die Krankenkasse Lumnezia II.
Christian Foppa war der erste Präsident der Krankenkasse Lumnezia I und leitete diese von 1918 bis 1955. Der umtriebige Posthalter und Landwirt engagierte sich für die Interessen der Bergbauernfamilien in vielen verschiedenen Ämtern und war auch politisch sehr aktiv: als Gemeindepräsident von Vignogn, Landammann des Kreises Lugnez, Grossrat und Nationalrat. 1953/1954 setzte er sich beim Bund mit Nachdruck dafür ein, dass dieser seinen Beitrag – den sog. Gebirgszuschlag - für die Krankenkasse Lumnezia I erhöht.
1918 anerkannte der Bund die Krankenkasse Lugnez. Die Jahresprämie der «Cassa da malsauns Lumnezia» kostete vier Franken für eine erwachsene Person. 2025 beträgt die monatliche Grundversicherung mindestens 278 Franken. Heute ist die «Cassa da malsauns Lumnezia» die kleinste zugelassene Krankenkasse der Schweiz mit 2571 Versicherten und zwei Mitarbeitenden.
Krankenkassen warben bereits früh um Mitglieder. Dies tat auch die in Luzern ansässige Christlichsoziale Kranken- und Unfallkasse in diesem Werbeprospekt. Die Kasse führte unter anderem eigene Sanatorien in Graubünden, St. Gallen und im Tessin.
Viele Frauen waren lange nur ungenügend versichert, gerade auch bei bei Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. Erst 2005 wurde die Mutterschaftsversicherung eingeführt: Erwerbstätige Mütter erhalten ein Taggeld während der ersten 14 Wochen nach der Geburt.
Mit dem eidgenössischen Kranken- und Unfallversicherungsgesetz von 1911 wurden die ersten sechs Wochen nach der Geburt wie eine Krankheit behandelt und waren versichert. Das galt jedoch nur für die wenigen Frauen, die eine Krankenversicherung besassen.
Frauen waren lange benachteiligt bei der Krankenversicherung. Die hohen Kosten für die Geburt waren der Hauptgrund dafür. 1937 stand gar der Vorschlag im Raum, eine gesonderte Wöchnerinnenversicherung einzuführen und die Männer von der Solidaritätspflicht auszunehmen. Dagegen protestierten Frauenorganisationen und Gewerkschaften. Demonstrationen gab es auch später immer wieder, wie hier 1956 in Zürich.
1945 wurde der Auftrag zur Schaffung einer Mutterschaftsversicherung in der Bundesverfassung verankert. Erst 50 Jahre später, nämlich ab 1996, deckte die obligatorische Krankenversicherung die medizinischen Leistungen rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett für alle Frauen ab.
Immerhin, der Kanton Graubünden wurde etwas früher aktiv. Er erliess 1991 ein Gesetz über Mutterschaftsbeiträge. Seither erhalten Mütter und Väter, welche finanzielle Unterstützung benötigen, während 10 Monaten nach der Geburt einen Beitrag vom Kanton.
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